„Besser als jede Psychotheraphie“, ist das, was Natalia Weimer am Ende des Abends sagte.
Jener Abend war geprägt von Emotionen, die von tiefster Trauer begleitet von Tränen bis hin zur Freude und einem Gefühl von Geborgenheit reichten. Wir haben zusammen gelacht und zusammen geweint. Doch welcher Anlass kann solche widersprüchlichen Emotionen in einem überhaupt auslösen? Die
Antwort: Zerstörung und Trennung auf der einen Seite, Gott und Gemeinschaft auf der anderen Seite.
Seit Tagen tobt ein kaltblütiger Krieg in der Ukraine. Das russische Militär attackiert scheinbar skrupellos Land und Leute dort und macht nicht einmal Halt vor Schulen und Krankenhäusern. Zwangsläufig verlassen viele Menschen ihr Heimatland und flüchten in Richtung sicheres Europa, auch nach Deutschland.
Selbst unser kleines Dorf Wackernheim hat ukrainische Flüchtlinge nun aufgenommen, koordiniert von unserem Ortsvorsteher Dieter Berg und von Natalia Weimer, welche bereits vor einigen Jahren nach Deutschland zusammen mit ihrer Tochter Iryna auswanderte und nun in Wackernheim wohnt. Beide
leisten unermüdlich Hilfe.
Die hier angekommenen Frauen und Kinder hatten nichts dabei, bis auf das, was sie am Leibe trugen. Und so kam die Idee der Taizé-Friedensandacht auf:
Großzügig wurden Sachspenden wie etwa Kleidung, Schuhe, Kosmetikartikel, Skateboards und Brettspiele für die Kinder in den Emmaus-Saal der katholischen Kirche „Schmerzen Mariens“ gebracht. Draußen, vor dem Saal, wurde ein Buffet errichtet mit verschiedenen Leckereien, die von den Mitgliedern des Chores Maranatha liebevoll zubereitet wurden.
Doch der eigentliche Mittelpunkt des Abends war das Zusammenkommen in der Kirche zur Andacht, wie schon eine ukrainische Frau zu ihrem Kind zu Beginn der Veranstaltung sagte: „Zuerst Kirche“, was ich mit meinem spärlichen Verständnis für osteuropäische Sprachen gerade noch verstehen konnte.
Gestaltet wurde die Andacht vom Chor „Maranatha“. Sie führten rührende Gesänge und Texte auf, sowohl auf Deutsch als auch auf Ukrainisch. Es ging um Krieg und Versöhnung, Gott und Zusammenhalt.
Hinterher ging es dann auf den Hof, wo das besagte Essen und Trinken sowie die Spenden bereits warteten. Die Kinder rannten erwartungsvoll in den Saal hinein, der voll von Kleidung und Gegenständen war, die darauf warteten, entdeckt und mitgenommen zu werden. Die Kleinen kamen mit strahlenden
Augen wieder raus, die Hände voll mit Spielzeug. Besonders angetan haben es ihnen die Seifenblasen – im Laufe des restlichen Abends sind beinahe zu jeder Zeit bunte Seifenblasen gen Himmel aufgestiegen, die im Licht der überall aufgestellten Kerzen und Scheinwerfer leuchteten und ihre Farben wechselten.
Die Erwachsenen unterhielten sich in der Zwischenzeit, aßen und tranken. Sprachbarrieren wurden mit Hilfe von Englisch, Dolmetschern und Google-Übersetzer umgangen. Dabei wurde viel von Einzelschicksalen und der Flucht aus der Ukraine erzählt. Eine ältere Frau, die blind ist, hat es mir besonders angetan. Sie musste sich allein durch die halbe Ukraine durchschlagen und war dabei auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Schlussendlich hat sie es in einen Zug geschafft, der so voll mit flüchtenden Menschen war, dass die Koffer am Bahnsteig zurückbleiben mussten. Dort musste sie zusammen mit den anderen Ukrainerinnen 12 Stunden Fahrt aushalten.
Der für mich vielleicht emotionalste Moment war, als die anwesenden Frauen aus der Ukraine mitten in der Geselligkeit des Abends zu einem Volkslied einstimmten. Ich habe kein Wort verstanden, was sie gesungen haben. Doch das musste ich auch nicht. Ich glaube, jeder von uns hat begriffen, was dieses Lied für eine Botschaft ausstrahlte, nämlich Einheit, Zusammenhalt und die Bitte um baldigen Frieden in ihrer Heimat.
Auch wenn die Flüchtlinge jeden Tag mit der Ungewissheit leben, ob und wann sie zurück in ihre Städte dürfen, und sie vielleicht nicht wissen, wie es ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern und Familienangehörigen in der Ukraine geht, konnte dieser Abend ein Stück Heimat und Geborgenheit vermitteln. Der Abend, gestaltet und organisiert vom Chor Maranatha, war wirklich Balsam für die Seele, wie man so schön sagt. Und auch wir, die wir hier in Deutschland leben, konnten mit den Ukrainerinnen mitfühlen und wurden auf einer emotionalen und persönlichen Ebene auf die Ungerechtigkeiten im Osten
Europas sensibilisiert.